Dr. H. Schaaf: Psychosomatik rund ums Ohr: Tinnitus, Gleichgewicht & Schwindel

Tinnitus und das Leiden am Tinnitus

Ansätze für einen pragmatischen Umgang mit den Möglichkeiten einer   h a u s ä r z t l i c h e n   Praxis

Kompletter Artikel in der Zeitschrift für den Allgemeinarzt Heft 8 - 2003, S. 389 - 393 von Dr. med.  Helmut  Schaaf    
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Zusammenfassung:
Patienten mit Tinnitus lösen bei vielen Hausärzten oft Ratlosigkeit, teilsweise auch Hilflosigkeit und eine daraus geborene Polypragmasie aus - so das Ergebnis eine Umfrage. Der Artikel gibt einen Überblick zu für den Allgemein- und Hausarzt relevanten Aspekten des Leidens am Tinnitus.
Dabei wird verdeutlicht, wie mit den Mitteln der ambulanten Praxis ein adäquater Umgang mit der Erkrankung ermöglicht werden kann.
So unerläßlich es ist, in der Akutphase HNO-Kompetenz hinzu zu ziehen, so wichtig wird es beim chronischen Tinnitus, wie bei anderen funktionellen Störungen, auf sicherer Basis eine letzlich auch psychologische Begleit- und Lotsenfunktion einzunehmen. Aufgezeigt wird auch, wo sich Patienten, aber auch Behandler, Unterstützung suchen können.

Hier das wichtigste in Kürze - mit einem ausdruckbaren Anleitungen zur angewandten Hörtherapie und mit Schlafritualen bei Tinnitus.

Im Akutfall erfolgt in der Regel eine Infusionstherapie mit Cortison und ggf. auch eine Cortisongabe (intratympanal) ins Mittelohr.
Danach zeigt sich oft, dass jedes weitere Bemühen, den Tinnitus doch "zu beseitigen", das Leiden am Tinnitus eher steigert als lindert.

Ein wesentlicher Grund dürfte darin liegen, dass für eine Erkrankung innerhalb der Wahrnehmung andere, teilweise gegensätzlich erscheinende Regeln gelten als für körperlich reparable Störungen.
So fördert die Aufmerksamkeit auf den Tinnitus mehr das Leiden und weniger die Habituation. Dann wird eine entängstigende Aufklärung (Counselling) des Patienten, und das sich vertraut machen mit den Ursachen und Auswirkungen des Tinnitus zur wohl wichtigsten Grundlage, um den aufreibenden Kreislauf zwischen Tinnitus und Aufmerksamkeit beenden zu können.
Die Aufklärung über die Hörwahrnehmung und das Aufzeigen nachvollziehbarer Wirkfaktoren in einem für den Patienten stimmigen Bedingungsmodell für das tinnitusverstärkende Wirkgeschehen hat in der Regel angstmindernde Effekte.

Häufige Befürchtungen sind, dass der Tinnitus:
 ¨ mit der Zeit lauter wird
 ¨ der Grund für eine, ggf. weitere Hörverschlechterung sein kann
 ¨ "verrückt" machen kann


Die Erfahrung zeigt, dass der Tinnitus
 ¨ eher mit der Zeit immer weniger laut wahrgenommen wird
 ¨ nie der Grund für eine, ggf. weitere Hörverschlechterung sein kann
 ¨ von alleine nicht "verrückt" machen kann.
 ¨ nie von außen lauter als 5 - 15 dB, (entspricht Blätterrascheln oder Computergeräusch) der Hörschwelle gemessen werden kann.


Basierend auf einer guten neurootologischen, aber eben auch psychosomatischen Einschätzung sollte dann ein - auch noch so einfaches, aber für den Patienten nachvollziehbares Wirkmodell aufgestellt werden, in dem veränderbare und nicht veränderbare Teile begreifbar werden können.

Was kann der Allgemein- und Hausarzt tun?!

Ganz konkret hinsichtlich des Tinnitus ergeben sich für den Allgemein- und Hausarzt folgende Möglichkeiten:
Zwei bis drei "wirkliche" Minuten des Zuhörens können die Grundlage für eine lange tragende Arzt - Patienten - Beziehung sein.

Wichtig ist, die Klagen des Patienten ernst zu nehmen, auch wenn man scheinbar "nichts machen kann".
Das Zuhören mit der Aussicht, etwa quartalsweise wiederkommen zu dürfen, hilft alleine schon, erst recht, wenn die Patienten "psychisch überlagert" erscheinen.

Im erweiterten Vorgehen kann dann oft auch ein Hörgerät oder ein Rauscher mit der glaubhaften Aussicht auf Verbesserung in den nächsten zwei Jahren die Grundlage für ein gedeihliches therapeutisches Vorgehen festigen. Auf jeden Fall bekommt dabei der nicht ganz so introspektionsfähige Patient etwas "in die Hand" und "hinter die Ohren", was auch seinem Leiden Ausdruck verleiht.
Besonders gewarnt sei vor dem schnellen Einsatz von Barbituraten und Diazepamen.
Nützlich sind hier - wie bei anderen Schlafstörungen - das Einhalten von "Schlafritualen" .

S c h l a f r i t u a l e :                                                                                                 aus Tinnitus: Leiden und Chance

ausdruckbare Anleitung für Patienten als pdf:

a) Der Tag soll wach gestaltet werden:   Sowohl vom Mittagsschlaf als auch vom Schlaf vor dem Fernseher soll Abstand genommen werden.

b) Das Bett soll als alleiniger Ort des Schlafes hoch geschätzt werden auch nur dazu genutzt werden.
   Es darf somit auch erst aufgesucht werden, wenn wirkliche Müdigkeit vorliegt.

c) Es sollen - als Gabe an sich selbst und an die nicht zu erkaufende Göttin des Schlafs- zwei bis drei angenehme Dinge ausgeführt werden,
   ehe das Bett aufgesucht wird.
    Das kann sein:
· Eine Runde spazierengehen,
· ein schönes Buch lesen (kein spannender oder gar ängstigender Krimi),
· ein Bad nehmen....
· Der Phantasie sollen keine Grenzen gesetzt sein.

d) Es soll kein Alkohol oder ein als "Schlaf"mittel ausgegebenes Betäubungsmittel eingenommen werden (Ausnahme sind die sogenannten Neuroleptika und Antidepressiva, wenn sie fachärztlich verordnet wurden (Diese Medikamente machen nicht abhängig).

e) Kaffee oder schwarzer Tee 4-6 Stunden sollten vor der gewünschten Einschlafzeit vermieden werden.


f) Bei Durchschlafstörungen, also Aufwachen in der Nacht, soll aufgestanden und die Zeit genutzt werden,
etwa mit Lesen, Spazierengehen, Musik oder einem Entspannungsverfahren

Das Bett soll erst wieder aufgesucht werden, wenn wieder Müdigkeit eingetreten ist.

g) Um die eigene Schlafzeit zu überprüfen kann es sinnnvoll sein, ein großes Blatt Papier neben das Bett zu legen
      und in der Zeit der Schlaflosigkeit alle 15 Minuten ein Kreuzchen machen.

Erst wenn diese nicht greifen, sollten dann - ggf. in Absprache mit psychotherapeutisch Kundigen - Antidepressiva den Vorzug gegeben werden.

Natürlich können diese konkreten Schlafrituale individuell ausgestaltet werden. Meistens führen sie dann oft schon innerhalb einer Woche zum Erfolg. Aber selbst wenn nicht sofort alles gut geht, ist das Gespräch bei den Stellen, an denen die Befolgung der Schlafrituale "hakt", wichtig. Entscheidend ist, einen Anfang zu machen.
In aller Regel tritt dann bei über 90 % der Patienten Habituation ein. Bei den anderen empfiehlt es sich, einen Umgang wie mit anderen funktionellen Störungen und/oder soweit möglich, die der psychotherapeutischen Bearbeitung.

Gegebenenfalls muss dem ein Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik, die auf das Symptom spezialisiert ist, vorangehen. Oft wird diese in ihrer Kompetenz akzeptiert, manchmal gerade weil man hier nichts direkt "Psychotherapeutisches" vermutet.

Dass es auch im Alter von 78 Jahren nicht zu spät ist, relevante Lebensereignisse entlang einer adäquaten Hörgeräte Versorgung, verbunden mit einer guten antidepressiven Einstellung zu bearbeiten, zeigt eine ausführliche Kasuistik

Für die eigene sichere therapeutische Haltung ist dabei ein Grundverständnis psychischer Wirkmechanismen und deren Reflexion nützlich.
Hilfreich für Behandler können dabei sog. Balintgruppen sein, in denen Ärzte fallzentriert auch die eigene emotionale Komponente der Begegnung mit den Patienten spiegeln können. Über ein darin geübtes psychosomatisches Verständnis wird es dann auch möglich, sich selbst nicht "zugedröhnt" zu fühlen, wenn der Patient den - für Außenstehende - offensichtlichen Sachverhalt noch nicht verstehen oder gar umsetzen kann.
Manchmal hilft auch Zeit, Beharrlichkeit und die Perspektive, sich in drei Monaten dazu noch mal "sehen und hören" zu können.

Wozu man den Patienten anleiten kann:
Beispiele für Patienten aus der angewandten Hörtherapie (ausdruckbare pdf Datei)

Mit geschlossenen Augen hören und wahrnehmen

  Setzen Sie sich auf eine Parkbank und schließen Sie für einen Moment die Augen.
    Versuchen Sie zuerst zu spüren, wie Sie auf der Bank sitzen.   Mit den Füßen können Sie den Untergrund ertasten, Gras, Steine oder Lehm.

Vielleicht können Sie auch, mit einem vertrauten Menschen, mit verbundenen Augen eine Zeitlang gehen.
    Sicher geführt; versuchen Sie mit den Händen die Hindernisse zu ertasten.   Umfassen Sie einen Baum, fühlen Sie seine Blätter.
Achten Sie dabei mit Ihrem Partner darauf, dass das Gelände bei einer derartigen "Blindführübung" nicht zu einfach ist, damit möglichst viel mit Händen oder Füßen ertastet werden kann. Bleiben Sie bei der Übung ruhig und für Ihre Wahrnehmungen aufmerksam.

Vielleicht können Sie auf Ihrem Gesicht und auf der freien Haut Temperaturunterschiede im Schatten und in der Sonne spüren,
Vielleicht können Sie hell und dunkel bei verbundenen Augen erahnen und so Hindernisse umgehen.
Oder Sie riechen einen frisch gemähten Rasen oder blühende Blumen.

Vielleicht erfahren Sie, dass Sie sich nicht nur über das Ohr orientieren müssen, sondern sich auch auf Ihre anderen Körperfühler verlassen können.
Gleichzeitig wird Ihnen aber bewusst, dass Sie bestimmte Geräusche nicht mehr hören können, entsprechend der Hörminderung.

Training des Richtungshörens

Setzen Sie sich, wiederum mit geschlossenen Augen, vor die beiden Lautsprecher Ihrer Stereoanlage.
Versuchen Sie bewusst, den Klang von rechts und den von links zuzuordnen.
Versuchen Sie danach ganz bewusst aufzunehmen, welche Instrumente oder welche Stimmen aus welchem Kanal lauter kommen.
Wenn Sie schwerhörig sind, ziehen Sie Ihre Hörgeräte dazu an.
Erweitern Sie dann Ihr Übungsfeld in den Garten, in das Straßencafe, auf die Arbeit.

Als Hilfestellung halten Sie sich wechselseitig die Ohren zu, um die Richtung besser identifizieren zu können, aus der Geräusche kommen.
Als höchsten Schwierigkeitsgrad verfolgen Sie sich bewegende Gegenstände, wie etwa ein Auto oder ein Fahrrad, einmal nur mit den Ohren.

Unbewusst können Sie das schon alles.
Nutzen Sie aber mit diesen Übungen die schon vorhandenen Fähigkeiten bewusst, auch mit einem Ohrgeräusch. Sie werden zunehmend feststellen, dass so das Ohrgeräusch deutlich in den Hintergrund tritt.

Vielleicht machen diese Übungen in der Gruppe mehr Spaß als alleine.
Auf jeden Fall sind viele davon in der Gruppe leichter durchzuführen. Vielleicht finden Sie in Ihrer Nähe ein Retrainings- und Tinnituszentrum oder auch eine Selbsthilfegruppe, mit der Sie gemeinsam derartige Hörübungen angehen können.

Hörbar auseinandersetzen

Suchen Sie sich einen Gesprächspartner.
Einigen Sie sich mit ihm auf ein Thema(z.B. Rauchen in öffentlichen Gebäuden, Autobahngebühren, Gentechnik etc.).

Setzen Sie sich dann gegenüber und führen die Diskussion nach folgenden Regeln durch :

Sie müssen ihre Argumente in knappen Sätzen darlegen.
Der Gesprächspartner wiederholt sinngemäß, was er verstanden hat,   hierbei überprüfen Sie, ob alles richtig gehört wurde.

Darauf teilt Ihr Gesprächspartner seinen Standpunkt, ebenfalls in knappen Sätzen, mit.
Nun wiederholen Sie das Verstandene und fügen ein weiteres Argument hinzu.

Nun wiederholt Ihr Partner das Folgeargument und so weiter

Sie werden nach einer derartigen Übung vielleicht feststellen, dass durch die Konzentration auf das Gespräch der Tinnitus nicht wahrgenommen wurde. Wahrscheinlich tritt dabei auch die Geräuschkulisse zunehmend in den Hintergrund.

Als Nebeneffekt entsteht durch das Wiederholen der eigenen Argumentationen ein Gefühl des Verstanden- und Gehörtwerdens.

Meist entsteht dabei ein Freude am Gespräch ....

Gegebenenfalls kann in der hausärztlichen Kompetenz im Umgang mit funktionellen Störungen nicht nur die ärztliche Beziehungskompetenz stabilisiert werden, sondern möglicherweise auch die Funktion des Tinnitus verstanden und gegebenenfalls auch angesprochen werden.

Wenn (dann) die Arzt - Patientenbeziehung tragfähig erscheint, besteht eine (1) Möglichkeit des Ansprechens und des Verstehens darin, von dem Patienten subjektiv vorgetragene Kausalzusammenhänge einmal in ihrer umgekehrten Wirkung aussprechen zu lassen.

Beispiele:
"Weil mein Tinnitus laut ist, bin ich zuhause ständig genervt".      Versus :  "Ich bin zuhause ständig genervt, so dass mein Tinnitus laut wird"
"Seitdem ich Tinnitus habe, schaffe ich meine Arbeit nicht mehr."
     Versus :  " Seitdem ich meine Arbeit nicht mehr schaffen kann, ...
"Ich kann nicht schlafen, weil ich dauernd auf meinen Tinnitus hören muss."
  Versus :  Seitdem ich nicht mehr schlafen kann, höre ich andauerend meinen Tinnitus"

Günstig ist es, im Verlauf mit dem Patienten sein spezielles "Puzzle" zu verstehen, gegebenenfalls eben zusammen mit dem HNO-Arzt, aber auch vielleicht mit einem psychotherapeutischen Kollegen.
Bewahrt werden sollten die Patienten vor meist sinnlosen und teuren Rheologika, Wundersteinen, Wahrsagern oder Laserstrahlen.

Hilfreich sind hingegen meist Selbsthilfegruppen, zu denen über die Deutsche Tinnitus Liga   Kontakt aufgenommen werden kann.



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1.10.2014